Raus aus der Magersucht – Auf ein Getränk mit Laura-Stella Kaldinski

Laura-Stella KaldinskiFoto: Laura-Stella Kaldinski, privat

Die Krankheit Magersucht ist immer noch sehr verbreitet in unserer westlichen Welt. Wenn man nicht selbst betroffen ist, versteht man kaum, welch unglaubliche Einschränkungen Menschen auf Grund der Krankheit auf sich nehmen. Wie viel Lebensqualität damit verloren geht.

Umso bemerkenswerter finde ich es dann, wenn ein Betroffener sein Schicksal in die Hand nimmt und dafür sorgt, dass es ihm wieder gut geht. Und dabei gibt es so viel Interessantes zu lernen, was nicht nur für Menschen mit Essstörungen hilfreich ist.

Laura-Stella Kandiski

Neulich habe ich mich zu diesem Thema mit Laura-Stella Kaldinski getroffen.

Laura-Stella ist 26 Jahre alt und hat auf ihrem damaligen Blog „Für Leib und Seele“ lange Zeit über Sahnetorten und fitnessgerechtes Essen geschrieben. Sie hat wunderschöne Torten gebacken und die Rezepte dann mit Fotos auf ihrem Blog präsentiert. Wir kannten uns flüchtig, waren oft auf den gleichen Veranstaltungen, aber viel Kontakt hatten wir nicht.
Ihre Blogposts habe ich bei Instagram und Facebook verfolgt. Ihre Fotos haben mir immer ordentlich Appetit gemacht, aber gelesen habe ich sie nicht wirklich. Ich esse sehr gerne Torten, aber ich habe keine Lust, sie selber zu backen. 😉 Insofern war ich zu der Zeit nicht ihre klassische Leserin.

Aber vor ein paar Wochen berichtete sie von einem sozialen Projekt, das sie initiiert hatte und das ich toll finde. Kurz drauf erschien dann ein weiterer Artikel von ihr, den ich sehr interessant fand.
Laura-Stella eröffnete ihren Lesern in dem Artikel, dass sie magersüchtig war und beschreibt detailliert, was das mit ihrem Leben gemacht hat. Sie hat sich jetzt entschieden, die Magersucht an den Nagel zu hängen und ein anderes Leben zu beginnen. Wow! Was für eine Botschaft!

Jetzt mag ich ja Menschen mit ausgefallenen Biografien. Ich bewundere die, die Krisen hatten und sich nicht aufgegeben haben, sondern dafür gekämpft haben, die Krise zu überwinden.
Und so hab ich Laura-Stella dann zum Interview für Flowers & Candies gebeten. Zum Glück hatte sie Lust dazu!

Mein Gespräch mit Laura-Stella

Wir treffen uns in einem Bistro in Dortmund auf ein Getränk. Es ist ein ziemlich warmer Frühlingstag und so gibt es ein Wasser für Laura-Stella und für mich eine hausgemachte Limo.

Laura ist immer noch ein ziemlich zartes Persönchen. Unglaublich, dass sie vor einiger Zeit noch viel dünner war. Aber sie sieht rundum zufrieden und glücklich aus und strahlt eine unglaubliche Lebensfreude und Energie aus. Es macht total Spaß, sich ihre Geschichte anzuhören.

Maike und Laura

Die Zeit der Magersucht

Ich frage Laura-Stella, ob sie über ihre Zeit der Magersucht erzählen will. Das will sie und berichtet mir sehr offen, wie das so war.

Begonnen hat das mit ihren Essstörungen schon früh. Als Kind war sie eher mopsig und oft einsam. Diese Situation führte dazu, dass sie schon damals oft mit Süßigkeiten vor dem Fernseher saß. Ein erster Schritt in den Teufelskreis.
Sie fühlte sich damals innerlich vollkommen leer und hatte keine wirklichen Interessen. Anerkennung bekam sie nur für ihre guten Noten.
Als Jugendliche begann sie dann die ersten Diäten. Hierfür erfuhr sie ebenfalls Anerkennung. Und bei Laura-Stella setze sich ein Gedanke fest: Dünn sein bedeutet Anerkennung, Äußeres ist unglaublich wichtig. Was auch dazu führte, dass sie viel Geld für teure Klamotten ausgab, um mit ihrem Äußeren zu glänzen.

Was das Essen betraf, gab es bei ihr eine schwarze und eine weiße Liste; die Lebensmittel auf der weißen Liste durfte sie essen, die auf der schwarzen nicht. Die schwarze Liste wurde mit der Zeit immer länger, die weiße immer kürzer. Und zur Verdeutlichung: Auf der schwarzen Liste standen auch Produkte wie z. B. rote Paprika, weil die zu viel Zucker enthält.
Eine Pizza oder Nudeln wären für sie nie in Frage gekommen. Es gab immer nur Magerquark und Berge Salat ohne Dressing. Also viel Volumen mit wenig Kalorien.

Vor und nach dem Essen wurde Sport gemacht. So kam sie auf drei bis vier Stunden Sport am Tag.

Sie fühlte sich unglaublich mächtig, weil sie es schaffte, so diszipliniert zu leben, wie sonst niemand in ihrem Umfeld. Sie fühlte sich besser als andere, weil sie es schaffte, so wenig zu essen, so viel Sport zu machen und so diszipliniert zu leben. Das fühlte sich für sie gut an.

Die Magersucht ersetze ihr Selbstbewusstsein und Selbstliebe. Sie hat die Sucht genutzt, um eine Leitlinie für ihr Leben zu haben. Sie hat sich feste Strukturen und eine strenge Disziplin auferlegt, womit ihr Leben ziemlich eng wurde. Und damit wurde es um Laura-Stella immer düsterer.
Die Magersucht brachte zusätzlich eine Sport-, Medien- und Konsumsucht mit sowie eine anständige Depression.

Um damit nicht zu sehr aufzufallen, hat sie sich immer mehr zurück gezogen. Sie hatte immer weniger soziale Kontakte. Wie sie selbst sagt, wurde der Fernseher ihr bester Freund. Und gegessen wurde nach einem strikt vorgegebenen Zeitplan. Abendessen gab es immer zur TV-Doku „Das perfekte Dinner“.
Ihr Leben hatte sie unglaublich durchstrukturiert, hat Sport und Essen am Takt der für sie relevanten Fernsehsendungen ausgerichtet.

Sie hat nur noch ihre Arbeit als Social Media Managerin gemacht, war beim Sport und hat sich sonst fast ausschließlich in ihren eigenen vier Wänden aufgehalten. So wurde sie immer einsamer. Durch die enge Struktur, die sie sich mit der Zeit auferlegt hat, wurde ihr Leben immer enger. Jeder Pflichttermin, der mit Essen zu tun hatte oder ihren über Jahre ausgeklügelten Zeitplan durcheinanderbrachte, war eine Bedrohung.

Der Foodblog war dabei ein Instrument, der ihr half, das Bild von sich nach aussen aufrecht zu erhalten. Sie wollte zeigen, dass sie keine Magersucht hat, weil sie ja so viele Sahnetorten aß.

Vor zwei, drei Jahren streikte dann der Körper. Laura-Stella kam in eine Klinik. Damit war die Krankheit aber noch nicht überwunden. Sie bemühte sich um einen ambulanten Therapieplatz. Was sehr schwierig war, weil die Wartezeiten so unendlich lang sind. Nach zwei Jahren wird sie endlich einen angeboten bekommen.

Die Entscheidung, das Leben in die Hand zu nehmen

Parallel kommt dann der Punkt, an dem Laura-Stella entschieden hat, dass sie so nicht weiter leben will. Der Auslöser: Sie fühlt nichts mehr. Keine Trauer, keine Freude, kein Mitgefühl. Die Depression, die die Krankheit begleitet, wird immer heftiger.
Dazu die Erkenntnis, dass sie dieses strikte Programm nicht ihr Leben lang fortführen kann. Nicht fortführen will.

Sie will Verantwortung für ihr Leben übernehmen und nicht länger leiden. Sie will „runter von der Couch und rein ins Leben“, wie sie selbst sagt.

Während sie sich in die Beobachterposition versetzt und ihr eigenes Leben anschaut, stellt sie fest, dass sie immer nach den selben, alten Mustern lebt. Und entscheidet, dass sie jetzt „gerne neue Cassetten in den Rekorder legen will“.
Sie fragt sich „Wie will ich sein? Wie will ich nicht sein?“.

Ein erster Gedanke ist „Ich will ganz viel essen können ohne dick zu werden.“. Aber sie erkennt schnell, was eigentlich dahinter steckt: Sie möchte einfach nur unbeschwert leben.

Also zeichnet sie ein Bild von einer Laura-Stella, die sie gerne wäre: Eine gute Freundin, fit, einzigartig, strahlend, neugierig, lebendig und sinnvolle Dinge tuend.
Sie war immer neidisch auf Menschen, die einfach so mit Genuss eine Pizza oder eine Portion Nudeln essen. Die gerne Sport machen, weil es sich gut anfühlt und nicht, weil sie sich das auferlegt haben. So möchte sie auch sein.

Schritt für Schritt arbeitet sich sich vor in ein neues Leben. Ißt jeden Tag etwas Neues von der schwarzen Liste. Trennt sich von Menschen, die ihr nicht gut tun. Entfolgt im Netz Leuten, die ihren Fitnesswahn befördert hatten. Füllt ihren Kühlschrank neu.

Sie schreibt eine SMS an eine Freundin: „Gehst Du mit mir einen Kaffee trinken?“. Vorher undenkbar in ihrer fest strukturierten Welt. Und heimlich hofft sie, dass die Freundin ihre Nachricht erst spät entdeckt oder keine Zeit hat. Aber sie hat Zeit und freut sich auf einen Kaffee mit Laura: „Ja klar. Wo denn?“.
Also überlegt Laura-Stella sich, wie das so geht, einfach einen Kaffee trinken zu gehen. Was zieht man an? Wie würde ihr zukünftiges Ich das wohl machen?
Sie geht los, trifft sich mit ihrer Freundin und hat einen schönen Nachmittag.
Wieder zuhause weint sie bitterlich. Wegen allem, was sie so lange verpasst hat, aus Stolz, dass sie angefangen hat anders zu leben, aus Erleichterung.
Seit diesem Nachmittag gibt es keinen Magerquark mehr auf Laura-Stellas Speiseplan.

Was ich besonders spannend finde: Laura-Stella erzählt, dass sie diese „neue Laura“ erst wie eine Schauspielerin gespielt hat. Dass sie eine Idee davon hatte, wie sie sein will, wie ihr Leben aussehen soll. Und dass sie einfach so getan hat, als wäre sie so, wie sie es sich gewünscht hat. Und das hat sich gut angefühlt. Sie hat gemerkt, dass es so genau richtig ist. Und hat so weiter gemacht, bis es immer normaler wurde.

Da sie nie ohne Fernseher essen konnte, kommt der Fernseher in den Keller. Plötzlich hat sie ganz viel freie Zeit.

Sie fällt in ein Loch, jetzt wo die straffe Struktur aufgehoben ist und noch nicht genau fest steht, wo es hin gehen wird. Sie spürt gleichzeitig Angst, Mut und eine unglaubliche Freiheit. Die Angst erlebt sie so, dass es grad nicht einschätzbar ist, was sie grad tut, was passiert. Aber sie spürt Lebendigkeit, merkt erstmals, das das Leben ein Geschenk ist.
Die Angst wird nach und nach immer weniger und weicht gesunden Zweifeln. Sie stellt sich Fragen, ob das, was sie tut, funktionieren wird. Bereitet sich gut vor auf die kommenden Herausforderungen.

Laura-Stella baut ihren Blog komplett um. Sie startet einen Podcast. Auch da hat sie Zweifel „Wie wird er angenommen? Mögen die Leute meinen Podcast und meine Themen?“. Aber sie zieht es durch und läßt sich von den Zweifeln nicht einschüchtern.

Laura-Stella Kaldinski

Foto: Laura-Stella Kaldinski, privat

In unserem Gespräch erzählt sie, dass sie dankbar ist für die Magersucht. Dank dieser schlimmen Lebensphase, schätzt sie die Dinge umso mehr. Sie fürchtet sich nicht davor, einen Rückfall zu erleiden. Dafür ist ihr das Leben der „neuen Laura“ viel zu wertvoll. Die Magersucht ist Teil ihres Lebens. Aber sie bestimmt es nicht mehr.

Heute ist sie sehr achtsam mit sich und lebt eine gute Form der Selbstliebe. Wenn es ihr nicht gut geht, wenn sie mal schlecht drauf ist, spürt sie nach, was sie braucht. Und dann sucht sie das, wonach sie sich in dem Moment wirklich sehnt. Entweder trifft sie sich mit Freunden oder sie macht Yoga oder tut, wonach auch immer ihr gerade ist.

Das soziale Projekt von „Für Leib und Seele“

Im Rahmen ihrer Veränderung hat Laura-Stella angefangen, sich für Flüchtlinge zu engagieren. Sie lernt Menschen kennen, die nichts mehr haben und die es sich nicht leisten können, mal eben gemütlich einen Kaffee trinken zu gehen. Ihr wird noch einmal deutlicher, wie absurd doch diese selbstgewählte Krankheit ist, im Überfluss zu leben und sich dennoch alles zu versagen.

Sie überlegt, wie sie die Reichweite ihres Blogs sinnvoll nutzen kann. Da begegnen ihr Projekte wie der „aufgeschobene Kaffee“: Du verzehrst etwas im Café und bezahlst Deinen Kaffee doppelt, so dass jemand, der sich das nicht leisten kann, Deine 2. Portion dann kostenlos bekommen kann.
Bislang gibt es solche Projekte in verschiedenen Städten; in ihrer Heimatstadt Dortmund aber noch nicht.

Und so entsteht das soziale „Leib und Seele Projekt“. Laura-Stella legt los: Sie spricht mit dem ersten Café, druckt Kärtchen und bereitet eine Präsentation vor. Die Besitzerinnen des Ladens finden die Idee super und sagen direkt zu. Die Kärtchen, in die Kunden ihre Verzehr-Geschenke eintragen können werden immer mehr und Bedürftige können auswählen, welche Karte sie haben möchten. Und schon nach 3 Wochen waren im ersten Café 35 Kärtchen eingelöst.

Leib & Seele Projekt

Auch die Medien werden auf das Leib und Seele Projekt aufmerksam. Sie bekommt unglaubliche Reichweite mit der tollen Aktion.
Nach und nach kommen immer mehr Lokale dazu. Mittlerweile ist auch ein Haus ausserhalb Dortmunds im Norden Deutschlands dabei.

Laura-Stella hat die nötigen Schritte für das Projekt aufgeschrieben, damit auch andere in anderen Städten mitmachen können. Sie hofft, dass sich die Idee weiter trägt.

Der Gewinn ist für alle da: Menschen, die sich so keinen Kaffee & Co. leisten können, können so ein Stück weit am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Die Cafés machen mehr Umsatz und bekommen mehr Kunden, weil viele bewußt ein Lokal aussuchen, wo sie einen Gutschein hinterlassen können.

Ich finde, eine wirklich tolle Aktion!

Wie geht es weiter?

Laura-Stella möchte mit ihrer Zeit etwas sinnvolles bewirken. Sie möchte Menschen dabei unterstützen, etwas in ihrem Leben zum Positiven zu verändern.

Also hat sie entschieden, sich selbständig machen. Ihren Job als Social Media Managerin hat sie gekündigt. Sie steckt derzeit all ihre Kraft in ihre Blogprojekte.
Seit neuestem gibt es auch einen Podcast zu ihren neuen Themen. Sein Titel: „Für Leib und Seele – Für ein Leben in Veränderung“.

Und das ist jetzt auch Laura-Stellas Weg: Sie hat noch ganz viele Pläne!

Liebe Laura-Stella, ich danke Dir ganz herzlich für Deine Offenheit und das spannende Gespräch und ich wünsche Dir bei Deinen Plänen ganz viel Glück und Erfolg!

Aktualisierung von März 2018: Mittlerweile hat Laura ihren Blog und den Podcast an den Nagel gehängt und ist nach Berlin gezogen. Dort arbeitet sie für eine Tierschutzorganisation. Was für spannende Wege das Leben manchmal für uns bereit hält!

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3 Kommentare

  1. Liebe Maike,
    es ist so wunderbar, mit wie viel Liebe, Respekt & Einfühlungsvermögen du meiner Geschichte hier auf deinem Blog Raum gibst – und dadurch auch anderen Betroffenen oder Angehörigen Kraft schenkst! Denn das Leben ist so ein wundervolles und einmaliges Geschenk – und mein größter Wunsch ist es, dass jeder da draußen in der Welt dieses Geschenk mit all seinen Genussmomenten und in vollem Bewusstsein annimmt ♡ Danke für deinen Bericht!

    • Liebe Laura,
      ich freu mich sehr, dass Dir der Artikel gefällt! Und ich danke Dir für unser schönes Gespräch und Deine Offenheit! <3
      Ich finde, Dein Bericht passt hier so toll hin, weil er anderen auch Mut macht. Und darum geht es doch: Mut zu haben, sich weiter zu entwickeln und glücklich zu werden. 🙂

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